Beten am Bettag – und im Alltag

225 Jahre ist es her: Am 17. September 1797, mitten in den Wirren der französischen Revolution, widmeten die katholischen und reformierten Kantone der Schweiz erstmals einen Feiertag dem gemeinsamen Gebet. Seither macht der eidgenössische Dank-, Buss- und Bettag jeden Herbst bewusst, dass es Grund gibt zum Innehalten und Nachdenken – und dass solche Besinnung für den einzelnen Menschen und die Gesellschaft wichtig ist. Was aber heisst Beten heute, wo viele das Beten verlernt haben?

 

Unverhofft finde ich in einem Buch über das Beten mit Kindern Orientierungspunkte. Mit vielen konkreten Beispielen aus dem Familienalltag, in einfacher Sprache und kurzen Kapiteln nähert sich Andrea Langenbacher meiner Frage an. Von der christlichen Tradition herkommend denkt sie auch an Eltern, die nach anderen und neuen Ausdrucksformen ihres Glaubens und Erlebens suchen. Wer schon genau wisse, wie beten gehe, werde an diesem Buch eher wenig Freude haben, schreibt sie im Vorwort.

 

Fünf Orientierungspunkte nehme ich besonders mit:

  1. Gebete stehen in einer jahrtausendealten Tradition. Texte wie die alttestamentlichen Psalmen oder das Vaterunser schenken bis heute Halt und Trost, verleihen Sprache, wenn eigene Worte fehlen. Gleichzeitig gilt: «Mit all den Beterinnen und Betern vergangener Zeiten im Rücken sind wir eingeladen, unsere eigene Sprache zu finden.» (67) Beispiele dafür trägt Andrea Langenbacher im letzten Kapitel zusammen.
  2. Beten ist ein vielschichtiges Beziehungsgeschehen. Wer gemeinsam betet, tritt in Beziehung zu einem göttlichen Du, gestaltet die Beziehung zu anderen Menschen und sagt gleichzeitig etwas über diese Gemeinschaft aus. Und nicht zuletzt kommt man beim Beten auch in Kontakt zu sich selbst, zur eigenen Geschichte, zu Ängsten und Sorgen, Glück und Freude.
  3. Beten ist oft auch mit sinnlichen Erfahrungen verbunden. Gott begegnen kann bedeuten, eine Kerze anzuzünden, ein Lied anzustimmen oder auch einfach still zu sein und zu «hören, wie die Sonne schlafen geht» (87), wie es ein Mädchen angesichts eines Sonnenuntergangs staunend beschreibt.
  4. Das Gebet schenkt Distanz und lenkt wieder in unser tägliches Tun und Lassen zurück: Drücken wir unsere Dankbarkeit für Speis und Trank in unserem Verhalten aus? Auch in der Art und Weise, wie wir mit Nahrungsmitteln umgehen?
  5. Und schliesslich: Beten ist kein Wundermittel. Dass «Lieber Gott, bitte mach…» nicht unbedingt zum Ziel führt, lernen bereits die Kinder. Erwachsene müssen nicht verbergen, dass auf dem Weg auch Ohnmachtserfahrungen und «Zweifel herumliegen» (52). Die Frage, warum Unglück und Leid bestehen, wird im Gebet nicht geklärt; aber sie wird ausgesprochen und in die Gottesbeziehung hineingetragen.

 

Die traditionell dreifache Bezeichnung des Feiertags als Dank-, Buss- und Bettag weist darauf hin, dass in ganz unterschiedlichen Registern gebetet werden kann: weinend und lobend, (an)klagend und dankend. Ähnlich offen sieht es Andrea Langenbacher. Sie nimmt Abstand vom Gebet als religiöser Pflichtübung oder als Rezept zur spirituellen Selbsttherapie. Beten ist auch weniger eine pädagogische Massnahme, um in turbulenten Zeiten Akzente der Ruhe zu setzen, als vielmehr eine Haltung. Es lässt etwas herein, was grösser ist als wir selbst und unsere Sorgen und wichtiger als der ausgeleerte Sirup, der Hausaufgabenberg und der überfüllte Terminkalender. «Beten ist Atemholen aus Gott» (20), heisst es im Bonhoeffer-Zitat. So setzt der Bettag auch inmitten der Wirren unserer Zeit ein Zeichen.

 

Zum Weiterlesen:

Herders Buch der Kindergebete, 2021

David Steindl-Rast, Das Vaterunser. Ein Gebet für alle, 2022

Annette Jantzen, Gotteswort, weiblich. Wie heute zu Gott sprechen? Gebete, Psalmen und Lieder, 2022

Niklaus Brantschen, Gottlos beten. Eine spirituelle Wegsuche, 4. Auflage, 2022

Heinrich Bedford-Strohm, Frömmigkeit und Glück, 2022

 

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