Zeit der Übergänge

Der Film «Der Tote» handelt von einer ungewöhnlichen Reise. Die Hauptfigur, ein älterer Mann, durchläuft mehrere Stationen, teilweise mehrfach dieselbe, aber nie auf dieselbe Weise:
In einer der ersten Einstellungen sitzt der Mann in einem leeren Tramwaggon, barfuss, seine Schuhe sind durchnässt. Vor den Fenstern sind Rollos angebracht. Bedächtig wringt der Mann seine Socken aus und hängt sie über die Lehne vor sich.
Dieses Tram taucht im Film mehrmals auf. Einmal wird der Protagonist darin auf einem nostalgisch anmutenden Telefon angerufen und verschwindet nach dem Anruf hinter einem dunklen Vorhang am Ende des Waggons. Ein anderes Mal späht er unter dem Rollo hindurch zum Fenster hinaus und entdeckt auf einem grossen Gewässer ein sargähnliches Boot, aus dem heraus ihn sein Doppelgänger anblickt – oder ist er es selbst, den er dort sieht?
In der ersten Szene indes schaut er nur gedankenverloren Richtung Fenster – und sitzt auf einmal in einer Art Bahnhofbuffet. Im Hintergrund verrichtet eine Kellnerin ihre Arbeit, während der Mann an seinem Kaffee nippt. Der Klang einer Kuckucksuhr lässt ihn aufschrecken. Zielstrebig verlässt er das Lokal, das Tram wartet schon auf ihn. …

Übergänge
Diese Zeitschleifen charakterisieren den Kunstfilm «Der Tote» ebenso wie die überraschenden Szenenwechsel. Die Art der Übergänge wirkt surreal und mitunter abrupt. Als würde der Protagonist von einem Ort oder Zustand in den nächsten geworfen. So findet er sich plötzlich auf dem Fussboden wieder, nachdem er gerade noch an einem reich gedeckten Tisch vor lauter Tassen, Tellern und Teekannen gesessen hat. Als hätten unsichtbare Hände den Stuhl unter ihm weggezogen.
Bei anderen Szenenwechseln hingegen wirkt der Mann höchst aktiv, macht sich selbst auf den Weg und gestaltet den Übergang mit. Zum Beispiel, wenn er neugierig durch den Vorhang schlüpft oder mit energischen Schritten den Tramwaggon durchmisst und der Fahrerin eine Münze entgegenstreckt. Hier fühlen wir uns an die griechische Mythologie erinnert, in der der Fährmann Charon die Seelen der Verstorbenen über den Styx in die Unterwelt bringt und dafür eine Goldmünze, den Obulus, erhält. Dieses wie auch andere Motive deuten darauf hin, dass der Übergang, um den es im Film geht und den der Mann auf unterschiedliche Weise durchlebt, der Tod ist. Allerdings: Hat nicht jeder Übergang etwas von Sterben? Und von Neugeburt? Der Film trägt den Titel «Der Tote», lässt sich jedoch auf viele Lebenssituationen hin deuten.

Stationen
Die verschiedenen Szenerien des Films lassen an Stationen in der Biografie des Protagonisten denken. Dargestellt werden Momente des Innehaltens, Sich-Erinnerns und auch der Konfrontation. Was ist es, womit der Mann sich konfrontiert? Welcher Realität schaut er ins Auge?
Im Laufe seiner Reise begegnet ihm ein ausgestopfter Kauz (oder eine andere Eulenart) – wieder ein Symbol für den Tod? Ausserdem die erwähnte Kuckucksuhr, ein Symbol für das Vergehen der Zeit verbunden mit einem Weckruf. Und schliesslich das Spiegelbild, das er im Inneren einer überdimensionalen Kaffeetasse erblickt, die auf einer Theaterbühne steht.
Gerade das dritte Bild reizt mich zum Nachdenken. Wer im Kaffeesatz liest, will etwas über die Zukunft erfahren. Ist es das, was «den Toten» antreibt?
Das Erste, was der Mann in der Spiegelung sieht, ist überraschenderweise das Antlitz der Tramfahrerin (Charon!). Schaut ihm aus der Tasse der Tod entgegen? Er schreckt zurück, doch dann beugt er sich, halb freiwillig, halb unter Zwang (von hinten drückt eine schwarzbehandschuhte Hand gegen seinen Kopf), nochmals über die Tasse. Diesmal ist es sein eigenes Gesicht, das er darin sieht. Ein menschliches Gesicht, das viel erlebt hat und das Spuren davon trägt, das jedoch – anders als die erste Spiegelung – nichts Erschreckendes an sich hat.

Einen zweiten Blick «riskieren»
Der Tod erschreckt uns, wie das Unbekannte überhaupt. Das Anerkennen der eigenen Sterblichkeit hat aber auch etwas Versöhnliches und verbindet uns mit allen anderen Menschen. Sterblich sein heisst menschlich sein.
Ebenso wie vom Tod handelt der Film vom Blick auf das Leben. Der «Tote» begegnet bei seiner Rückschau immer wieder sich selbst. Was Mut braucht, ist also nicht nur der Schritt ins Unbekannte, sondern auch die Begegnung mit sich selber. Das Anerkennen eigener Erfahrungen und Prägungen, des eigenen Scheiterns und Gelingens, des eigenen Seins wie der eigenen Vergänglichkeit.
Die Konfrontation mit dem Tod und mit dem Leben gleicht im Film einem Sich-Herantasten: Manches scheint im ersten Moment zu überfordern, dann aber, beim zweiten Blick oder beim zweiten Durchleben, gewinnt der Protagonist die Kraft, den Schritt, der gegangen werden muss, zu bejahen.

 

Filme zu Sterben – Tod – Ewigkeit

Der Film «Der Tote» von Samuel Segurado und Liz Manresa besticht durch kunstvolle Bilder und interessante Klänge (Filmmusik!) und eignet sich besonders gut für die Gemeindearbeit. Der Film ist ab sofort im Streaming zugänglich (bei Relimedia oder über Ihre kantonalkirchliche Medienstelle).

Ebenfalls erwähnenswert ist der Film «Die allerlangweiligste Oma auf der ganzen Welt». Er berührt das Thema, wie man mit Kindern über den Tod sprechen kann. Dabei geht es auch um die Frage, was ein erfülltes Leben ausmacht, was von uns am Ende des Lebens bleibt und wie wir gemeinsam Erinnerungen schaffen können, die tragen.

Themensammlung

Anlässlich der bevorstehenden Feiertage Allerheiligen und Ewigkeitssonntag haben wir die Themenlisten mit Beiträgen zu Tod und Sterben und dem Umgang damit aktualisiert: Filme – BilderbücherArbeitshilfen für den UnterrichtRatgeber für Erwachsene.

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